DGNB Handbuch "Neubau Stadtquartiere" bietet Chancen für eine Stadtentwicklung des 21. Jahrhunderts
Autorin: Dagmar Hotze | Bildnachweis: DGNB e.V.
27. Juli 2012 - Wenn "Stuttgart 21" einen mehr als positiven Effekt hatte, dann diesen, dass allen Beteiligten - von den politisch Verantwortlichen über den Investor bis zu den Bürgern - bewusst wurde, dass Stadtentwicklung für das 21. Jahrhundert nicht mit Verfahrensweisen des 20. Jahrhunderts funktioniert. Diese Einsicht gilt jedoch nicht nur für die württembergische Metropole. Viele Vertreter deutscher Großstädte, aber auch von Flächenländern und ländlichen Regionen machen gegenwärtig die Erfahrung, dass ihr stadtplanerisches Latein nicht ausreicht, um die vielfältigen Umbrüche zu bewältigen. Die Gesellschaft insgesamt steht vor der immensen Herausforderung, Lebensräume zu schaffen, die nicht alleine dem vermeintlich ökonomischen Effizienzdiktat entsprechen, sondern das breite Spektrum der Nachhaltigkeitsthemen berücksichtigen. Ihre nachhaltige Qualität ist entscheidend für die Attraktivität - vielleicht auch für die Überlebensfähigkeit - einer Stadt. Diese Erkenntnisse sind nicht neu, genauso wenig wie Stadtplanungsverfahren ein Novum sind. Sie sind gesetzlich geregelt. Wozu braucht es da ein DGNB Handbuch?
Eine Guideline für Visionen
Ein nachhaltiges Stadtquartier zu planen und zu realisieren ist eine hochkomplexe Angelegenheit, die sich kaum am Reisbrett, mit Excel-Tabellen oder mit dem Gesetzesbuch in der Hand bewerkstelligen lässt. Um alle Betroffenen (inklusive der Bürger!) einbinden zu können, bedarf es zukünftig einer umfassenden Prozessqualität, die es ermöglicht, Nachhaltigkeitskriterien von Anbeginn zu berücksichtigen. Und genau hier setzt das fast 600 Seiten umfassende DGNB Handbuch "Neubau Stadtquartiere, Version 2012" an. Bereits das Inhaltsverzeichnis verdeutlicht die neuralgischen fünf Punkten, auf die es ankommt: auf die ökologische, ökonomische, soziokulturelle, funktionale, technische und prozessuale Qualität. Die den einzelnen Kapiteln vorangestellten Fachbeiträge, führen prägnent in den jeweiligen Sachverhalt ein. In seiner Ausführlichkeit lässt das Handbuch nichts unberücksichtigt: Von der lokalen Nahrungsmittelproduktion (urban farming) über die Barrierefreiheit, den Froschtunnel (!) bis zur Fussgängerinfrastruktur und dem Verkehrssystem wird alles durchdekliniert. Wer nun denkt, manches sei überflüssig und entspringe "typisch deutscher Gründlichkeit", der irrt. Denn der wesentliche Aspekt nachhaltiger Planung wird deutlich: Worauf es ankommt, ist das gemeinsam erarbeitete Nachhaltigkeitskonzept, das die Frage beantwortet "Was wollen wir wie erreichen und warum?". Das kostet zugegebenermaßen Kraft, Nerven und Zeit, deren Investment sich jedoch ebenso lohnt, wie das spätere monetäre - hoffentlich.
Ökobilanz verdeutlicht Umwelteinwirkungen
Spätestens mit der Ökobilanzierung kommt die Stunde der Wahrheit. Doch die systematische Analyse aller in einem Quartier stattfindenden Prozesse inklusive des Lebenszyklus für Konstruktion und Betrieb des Stadtquartiers kann mehr sein, als ein komplexes Rechenverfahren für gewiefte Techniker. Die mannigfaltigen Nachweise und Dokumentationen, die beigebracht werden müssen, bieten mit einer ansprechenden Öffentlichkeitsarbeit die Möglichkeit, einem breiten Publikum Wirkungszusammenhänge zu erklären,
die sonst nicht gesehen würden. Auch wenn dies einen zusätzlichen Kraftakt darstellt und explizit so nicht im Handbuch erwähnt wird, sollten die Beteiligten jede Chance nutzen, transparent darzustellen, was sie wie und warum tun. Vertrauensbildende Maßnahmen wirken sich in der Regel positiv aus. Das wird für die Erstellung nachhaltiger Stadtquartiere genauso gelten, wie für andere Dinge des Lebens.
Nachhaltige Qualitäten entscheiden über Wertstabilität
Das Kriterium ECO 1.2 (Fiskalische Wirkung auf die Kommune) von Seite 229 bis 228 ist vielleicht der wichtigste Abschnitt im gesamten Buch, der am aufmerksamsten gelesen werden sollte. Hier offenbart sich, welche Fehler in den vergangenen Jahrzehnten in vielen Stadtquartieren gemacht wurden. Statt Integration (21. Jahrhundert) wurde Seperation (20. Jahrhundert) betrieben; statt Qualität wurde Quantität des immer Gleichen geschaffen. Wohnen, Arbeiten, Einkaufen, Freizeit, Verkehrs-, Energie- und Kommunikationsinfrastrukturen - allesamt volkswirtschaftlich betrachtet offene Rechnungen. Und wer soll sie begleichen, angesichts von Euro- und Finanzkrise? Wo also ist die Wertstabilität? Wo ist sie geblieben? Man kommt wohl oder übel zu der Feststellung, dass sie vielfach erst (wieder) geschaffen werden muss.
Die im Handbuch formulierten Ansätze können ein Neubeginn für die Planung nachhaltiger Stadtquartiere sein. Ein Anfang, um weitere, größere Prozesse anzustoßen. Um transparent zu machen, worauf es nicht erst zukünftig, sondern gegenwärtig ankommt. Nicht das Zertifikat steht im Vordergrund, sondern der Weg dorthin! Deshalb ist zu wünschen, dass das Handbuch nicht nur innerhalb der Immobilien- und Bauwirtschaft gelesen wird. Es gehört vor allen Dingen auf die Schreibtische von politisch Verantwortlichen und nicht zuletzt in die Hände von verantwortungsbewussten Investoren, die ein Interesse daran haben, Geld wertstabil und sicher anzulegen. Wie Investments misslingen können, erleben wir aktuell. Dass es auch anders geht, kann mit Hilfe dieses Handbuchs unter Beweis gestellt werden.